Bilz-Stiftung

Bilz-Preis 2017

Bilz-Preisverleihung am 23. November 2017

Preisträger

Maro Drom e. V.

Laudator

Annette Frier und Helge Malchow

Presse

Begrüßungsrede von Fritz Bilz

Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen der Bilz-Stiftung möchte ich Sie ganz herzlich zur 19. Bilz-Preisverleihung begrüßen.
Ich möchte einige Aspekte über den Umgang mit Sinti und Roma – oder wie sich Markus Reinhardt stolz nennt – über den Umgang mit Zigeunern ansprechen.
Wir stellen heute immer noch Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft fest. Das zeigt sich unter anderem darin, dass diese Bevölkerungsgruppe immer noch keinen gleichen Zugang zu den Bereichen Wohnen, Arbeiten, Gesundheit und Bildung haben. Es darf zwar heute offiziell keine Sondergesetze für Sinti und Roma geben. Aber inoffiziell werden bestimmte Praktiken weiter gepflegt. Immer wieder gibt es Schlagzeilen über Sonderkarteien und Sonderbehandlung ohne gesetzliche Grundlage. Immer noch geistern auch heute Abkürzungen wie

  • HWAO – „häufig wechselnder Aufenthaltsort“
  • TWE – „Tageswohnungseinbrecher“ oder
  • MEM – „mobile ethnische Minderheit“

In den Polizeiberichten herum, wenn es um Zigeuner geht.
Diese immer noch vorhandene strukturelle Diskriminierung von z. B. Sinti ist schwierig zu überwinden.
Um das gesamte Ausmaß dieses Problems zu begreifen, ist es sinnvoll, sich einmal mit den Wanderungsbewegungen der Zigeuner zu befassen.
Über die Jahrhunderte gab es vier Einwanderungswellen von Sinti und Roma nach Deutschland.

  1. Die erste begann vor rund 600 Jahren, als Sinti vor den türkischen Heeren flohen und sich über Ungarn und Böhmen kommend auch in Deutschland niederließen. Sie wurden zumeist in der frühen Neuzeit hier integriert.
  2. Eine zweite große Welle kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa und dem Balkan. Sie – zumeist Roma – flohen vor der Verfolgung nach Westeuropa und somit auch nach Deutschland.
  3. Eine dritte sehr viel weniger im Bewusstsein verankerte Welle war in den 1960er Jahren als sogenannte jugoslawische Gastarbeiter – darunter viele Roma – nach Deutschland geholt wurden, um den durch den Mauerbau versiegenden Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten zu kompensieren. Im Ansehen bei den deutschen standen sie in der Hierarchie über den Nordafrikanern und Türken. Viele von ihnen haben sich hochgearbeitet und sind in der zweiten und dritten Generation voll im gesellschaftlichen Leben integriert. Aber dies gelang nur, weil sie sich nicht als Roma geoutet haben. Denn wenn sich einer von ihnen geoutet hätte, hätten die Vorurteile wieder voll gegriffen.
  4. Seit Ende der 1980er Jahre wurden durch den Zerfall von Jugoslawien und der Balkanstatten viele Roma vertrieben. Sie kamen unter Anderem auch nach Deutschland. Diese verfolgten Menschen unterlagen in Deutschland einer rigorosen Abschiebepolitik. Einen zusätzlichen Schub bekam die Vertreibung noch durch den Kosovokrieg 1999. Es gab rund 100.000 voll integrierter Roma im Kosovo. Aber nach Beendigung des Kosovokrieges – unterstützt durch Deutschland mit dem unsäglichen Auschwitz-Vergleich von dem deutschen Außenminister Joschka Fischer – trieben die Kosovo Albaner Serben und Roma aus dem Kosovo. Es wurde von der Mehrheitsgesellschaft im Kosovo gebrandschatzt, misshandelt und vergewaltigt. 30.000 bis 35.000 der früher voll integrierten Roma leben dort noch heute in den Flüchtlingslagern. Und wenn sie zu uns kommen, werden sie zurückgeschickt.

Alle diese Gruppen wurden schon in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt. Die ersten beiden im Deutschen Nazi-Reich. Die letzten beiden im besetzten Balkan. Man nimmt an, dass mindestens 200.000 von ihnen von den Nazis ermordet wurden. Es gibt sogar Schätzungen, die von 500.000 Menschen ausgehen.
Der Umgang mit diesen verfolgten Menschen in der BRD nach 1945 ist beschämend und war und ist die Grundlage der bis heute reichenden Stigmatisierung. Sie erhielten keine Entschädigung, keine Anerkennung als Opfer des Völkermordes. Ihnen wurde von den Nazis der deutsche Pass abgenommen und nach 1945 nicht zurückgegeben. Manchen wurde sogar erst nach 1945 der Pass abgenommen mit der Begründung: „Ihr könnt ja keine Deutsche sein!“
Dieses Verhalten ist nicht verwunderlich, denn nach 1945 waren die gleichen Verwaltungsbeamte und Kripoleute, die vorher für die Verfolgung zuständig waren, zuständig. Sie setzten alles dran auch nach 1945 die Gemeinden „zigeunerfrei“ zu halten. In den 1950er Jahren wurden Zigeuner in der BRD in Elendsquartieren an den Rand der Städte gedrängt oft in notdürftigen Behausungen. Markus Reinhardt und seine Familie und Verwandten können ein Lied davon singen.
Die Situation vieler Sinti war nach 1945 schlechter als vor 1933.
Um eine Entschädigung für das erlittene Unrecht zu erhalten klagten die Sinti und Roma. Der BGH entschied 1956, dass die Deportationsmaßnahmen keine NS-Gewaltmaßnahmen waren. Sie seien nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden, sondern weil sie „Kriminelle“ waren und somit zu Recht in Konzentrationslager verschleppt wurden.
Bis in die 1980er Jahre wurde diese These vertreten. Deshalb wurde den Zigeunern jahrzehntelang die Anerkennung als Opfer versagt und die Einzelentschädigung erschwert oder unmöglich gemacht.
Erst im Mai 2015 distanzierte sich die Präsidentin des BGH von der „unvertretbaren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes“ und erst im Februar 2016 entschuldigte sich die Bundesregierung vor dem Zentralrat der Sinti und Roma für dieses Verhalten.
Durch die Bürgerrechtsbewegung fand ab den 1970er Jahren langsam ein Umdenken statt. Die Anerkennung der Zigeunerverfolgung wurde als „Völkermord“ thematisiert und die Entschädigungsfrage in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Damit begann auch ein langsamer Abbau der Ghettos.
Auch die Familie von Markus Reinhardt hat dies alles am eigenen Leib verspürt. Erst 1975 konnte seine Familie in ein eigenes Haus ziehen.
Maßgeblichen Anteil an der Aufarbeitung dieser Geschichte hatte der in den 1980er Jahren in Köln gegründete Rom e. V., der übrigens schon 2005 den Bilz-Preis erhalten hat.
Einen herben Rückschlag in der Aufarbeitung und Versachlichung dieser Diskussion hatte die Stigmatisierung von Roma im Zuge des Zerfalls der Staatenwelt in Süd-, Mittel- und Osteuropa ab den 1980er Jahren gebracht. Das galt insbesondere in den Ländern Jugoslawien, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Die Diskriminierungen, gewalttätige Übergriffe und fehlende Zukunftsperspektiven führten dazu, dass viele Roma-Familien ihre Heimat verließen.
Ein weiterer Schub kam 1999 in Folge des Kosovo-Krieges. Es ist ein großes Versäumnis der europäischen Staatengemeinschaft, dass die Integration dieser Menschen nicht angepackt wurde. Dass dies geht, zeigte die von 1991 bis 2004 staatlich gewollte und geförderte Einwanderung von rund 220.000 jüdischen Zuwanderern – sogenannte Kontingentflüchtlinge – und 1,9 Millionen sogenannte Spätaussiedler.
Bei den geflüchteten Roma handelt es sich um eine Gruppe von 100.000 Menschen. Es wäre ein leichtes gewesen, diese zu integrieren. Man hätte es nur wollen müssen.
Die EU gibt zwar viel Geld für Romafamilien im ehemaligen Jugoslawien, aber das Geld vereinnahmen die örtlichen Verwaltungen für eigene Zwecke oder sie versickern in den Taschen korrupter Menschen. Es gibt keine Kontrolle der eingesetzten Gelder. Würden diese tatsächlich bei den Roma ankommen, wäre schon viel geholfen.
Die Bundesregierung soll endlich analog zum Antisemitismus eine Antiziganismus-Kommission einsetzen, damit Maßnahmen ergriffen werden, dass Sinti und Roma nicht weiter diskreditiert werden. Besonders die Polizei, Verwaltungsangestellte im öffentlichen Dienst und Beschäftigte im Bildungsbereich müssen geschult und mit speziellen Materialien versorgt werden, um in ihrem Verhalten jeglichen Antiziganismus zu verhindern.
Die Geschichte der Roma und Sinti, ihre Verfolgungen und Stigmatisierungen müssen endlich in die Lehrpläne deutscher Schulen aufgenommen werden.
Dies wären erste Schritte, dass die Zigeuner in der Mehrheitsgesellschaft als kulturelle Bereicherung und als integrativer Teil unserer Gesellschaft anerkannt werden.
Herzlichen Dank

  • Bilz-Preis Zeitleiste